Nicht_kategorisiert

Deutschland: „Textarchäologen“ bei der Feuerwehr Alsfeld im Einsatz

ALSFELD (DEUTSCHLAND): Die Inhalte von über 100 Jahre alten Dokumenten werden derzeit in der Alsfelder Feuerwache gelüftet. Es handelt sich vor allem um Protokollbücher des damaligen Kommandos und des Feuerwehrverwaltungsrates, die bis in das Jahr 1876 zurückreichen. Sie wurden teilweise in Sütterlin oder Kurrentschrift verfasst, zwei heute völlig ungebräuchliche Laufschriften.

„Die Inhalte der Bücher konnten wir schlichtweg nicht entziffern“, schilderte Alsfelds Wehrführer Carsten Schmidt. Hilfe fanden die Feuerwehrleute in ihren eigenen Reihen mit Rita Bücking und Erwin Heiser aus der Ehren- und Altersabteilung. Beide sitzen seit Mai diesen Jahres an der Übersetzung der weit über Eintausend handschriftlichen Seiten. Die „Textarchäologen“ treffen sich dazu jede Woche zweimal für zwei Stunden, um die alten Schriften zu übersetzen und zu digitalisieren. Derzeit werden Schriften aus dem Jahr 1924 in die heutige Schrift gebracht.

Das erste Protokollbuch, welches die Geschehnisse vor 1876 dokumentierte, ging vermutlich bei einem Brand verloren. Die Aufzeichnungen aus der Kriegszeit sind ebenfalls unauffindbar. Durch den Einsatz von Rita Bücking und Erwin Heiser sollen die derzeit noch erhaltenen Protokollbücher für die Nachwelt „auffindbar“ bleiben.

Doch auch die Kenner der alten Schrift haben bei dem Projekt sichtlich ihre Schwierigkeiten. „Jeder Schriftführer hat anders geschrieben“, so Rita Bücking. Nicht nur die Schriftzeichen, sondern auch der Gebrauch von alten Deutschen Wörtern erschweren das Verständnis des Geschriebenen. „Auf den ersten Blick sind die Zeichen ein Schreck, doch dann kann man sie doch lesen“, schilderte Erwin Heiser. Mit 87 Lebensjahren kann er sich noch an die Zeit der Pflichtfeuerwehr in Alsfeld erinnern.

Damals gab es in Alsfeld in zehn Zügen um die 600 aktiven Feuerwehrleute, sie wurden vom Bürgermeister in Hilfsmannschaften aufgestellt. Dazu zählten Hydrantenzüge oder Steigerzüge. Eine wichtige Aufgabe kam damals offensichtlich den Signalisten der Feuerwehr zu. Im Brandfall mussten sie per Fahne, Horn oder rotem Licht ihre Kameraden alarmieren. Wehrführer oder Fachbereichsleiter waren anno dazumal noch unbekannt, der Chef der Feuerwehr wurde Kommandant genannt. Ihm standen ein zweiter Kommandant und Adjutanten zur Seite. „Wer zu Übungen nicht erschien, wurde mit Strafen im Bereich von wenigen Pfennigen bis mehreren Mark getadelt“, so Heiser. Penibel wurden solche „Vergehen“ in den jetzt übersetzten Protokollbüchern dokumentiert

„Wer glaubt, dass der Brandschutz nur in der Alsfelder Kernstadt eine Rolle spielte, der irrt“, so Erwin Heiser auch im Blick auf die heutige Situation der Feuerwehr Alsfeld. Schon damals gab es „Zweigstellen“ in der Umgebung, beispielsweise in Eudorf oder am sogenannten Hellhof. Der Hellhof zwischen Alsfeld und Eifa war ein größeres landwirtschaftliches Anwesen, dort war eine Feuerspritze untergebracht. Im Brandfall musste die Spritze per Kutsche zum Einsatzort gebracht werden. „Frühere haftete der Kutscher, wenn die Spritze zu langsam zum Brandort kam oder Verunfallte“, so Heiser.

Sehr detailreich wurden in den Protokollbüchern die Jubiläen der Feuerwehr dokumentiert, ebenso die Besuche von Provinzialfeuerwehrtagen oder Landesfeuerwehrtagen. Bis nach Frankfurt reisten die Alsfelder Feuerwehrleute früher, um sich zu präsentieren. Weniger detailreich wurden in den Schriftstücken Dispute aufgezeichnet, eher ihre Lösung. So gab es beispielsweise im Jahr 1924 einen nicht näher beschriebenen Beschwerdebrief nach dem 70-jährigen Jubiläum, der durch eine Aussprache im Kommando beigelegt wurde.

Die noch heute verwendete Bezeichnung der „Blauröcke“ lässt sich in den Protokollen erklären. Damals trugen die Feuerwehrleute eine Uniformjacke aus Tuchstoff, dem sogenannten Rock. Eine wirkliche Schutzkleidung stand den Feuerwehrleuten nicht zur Verfügung, neben dem Rock komplementierten ein Gürtel und ein Helm den Einsatzdress.

Die dokumentieren Sitzungen des Kommandos oder des Verwaltungsrates fanden meist in Gasthäusern oder bei Privatpersonen statt. Für den heutigen Leser überraschend: Meist starteten die Sitzungen erst nach 21 Uhr und endeten weit nach Mitternacht. Eine mögliche Erklärung sieht Erwin Heiser in der damaligen Berufstätigkeit der Menschen, die den ganzen Tag ausfüllte: „Für solche Sitzungen blieb wohl nur nach dem Feierabend die nötige Zeit“.

Einige Sachen haben sich den Protokollen zufolge bis heute nicht geändert, andere schon. „Zur Totenehrung stand man damals wie heute auf und Gedachte so den Verstorbenen“, schilderte Rita Bücking. Sie war im Jahr 1966 die erste Frau in der Feuerwehr Alsfeld. Ihre Aufnahme in die damalige Männerdomäne musste in einer Kommandositzung geklärt werden, der nötige Entschluss dauerte fast vier Wochen. „Das ist heute zum Glück anders“, so Rita Bücking.

Freiw. Feuerwehr Alsfeld

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert