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Grenfell-Tower-Bericht 2019: Unverständnis bei vfdb und DFV & Reportage

MÜNSTER / BERLIN (DEUTSCHLAND): Mit Unverständnis haben die Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes (vfdb) und der Deutsche Feuerwehrverband auf die Vorverurteilung der Londoner Feuerwehr im Zusammenhang mit dem Brand des Grenfell Towers in London reagiert.

Bei der Katastrophe waren vor zwei Jahren 72 Menschen ums Leben gekommen. In zahlreichen Berichten wurde der Feuerwehr wegen angeblich schwerwiegender Fehler „systematischer Natur“ unter Berufung auf den vorab bekannt gewordenen Untersuchungsbericht Mitschuld am Tod zahlreicher Menschen gegeben. „Es ist kaum zu glauben, dass man angesichts der schlimmen Baumängel an und in dem Gebäude zu einem solchen Schluss kommen kann“, kommentierte vfdb-Vizepräsidentin Dr. Anja Hofmann-Böllinghaus den Bericht.

Seiten-Auszug der zugehörigen Reportage im Feuerwehr-Fachmagazin BRENNPUNKT, Ausgabe 4/2017 (August).
Verwendung mit freundlicher Genehmigung vom Brennpunkt.

In der zitierten Untersuchung werde zwar eingeräumt, dass sich das Feuer an dem Gebäude wegen einer Fassadenverkleidung aus leicht entzündlichem Material so rasch habe ausbreiten können. Dennoch werde der Feuerwehr eine Mitschuld an der Katastrophe gegeben und kritisiert, dass die Feuerwehr auf eine solche Katastrophe nicht vorbereitet gewesen sei. „Es erscheint geradezu absurd, für ein solches, nicht vorhersehbares Unglück im Nachhinein die Feuerwehr mitverantwortlich zu machen“, betonte Anja Hofmann-Böllinghaus. „Stattdessen sollte gefragt werden, welche Behörden schon lange vorher von den eklatanten Baumängeln gewusst und nichts unternommen haben. In den letzten Jahrzehnten ist staatliche Kontrolle auch in Großbritannien weitgehend privatisiert worden. In diesem Zuge mussten auch Feuerwehren Aufgaben abgeben – diese politischen Entscheidungen kann man aber jetzt nicht im Nachhinein den Feuerwehren zur Last legen.“

Auch DFV-Präsident Hartmut Ziebs äußerte sich befremdet über das Medienecho auf den Untersuchungsbericht, der erst am (heutigen) Mittwoch, 30. Oktober 2019, offiziell bekanntgegeben wurde. „Unsere volle Solidarität gilt den Londoner Feuerwehrkameraden“, erklärte Ziebs. „Selbstverständlich ist es zulässig und auch notwendig, Feuerwehreinsätze zu kritisieren, um gegebenenfalls Schlüsse für künftige Einsätze zu ziehen. Hier jedoch wird der Eindruck erweckt, von den wirklichen Fehlern und den Schuldigen an dem schrecklichen Unglück ablenken zu wollen.“

Deutscher Feuerwehrverband

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Reportagetext aus dem Brennpunkt 4/2017 (August)

Ein brennender Kühlschrank in einem Londoner Hochhaus war dem aktuellen Ermittlungsstand zufolge der Auslöser für ein fatales Großfeuer, das nicht nur einen 24-stöckigen Wolkenkratzer lichterloh in Flammen stehen ließ, sondern auch fast 80 Menschen das Leben gekostet hat.

In der Ausgabe 1/2017 hat der Brennpunkt ausführlich über einen Großbrand im ältesten Hochhaus von Teheran berichtet, das während des Löscheinsatzes der Feuerwehr in sich zusammenstürzte und mindestens 20 Feuerwehrleuten das Leben gekostet hat. Nun richtete die Welt ihre Augen neuerlich auf einen fatalen Hochhausbrand. Dieses Mal im Herzen von Europa. London rückte mit dem Vollbrand eines 24-stöckigen Gebäudes mit 120 Wohneinheiten und 400 bis 600 Menschen ins Rampenlicht und ließ auch hierzulande eine Welle an teilweise hitzigen Diskussionen zum Thema des vorbeugenden Brandschutzes aufpoppen.

Es würde den Rahmen des Heftes sprengen, sich in Details zu verzetteln, die vielfach auch noch gar nicht bekannt sind. Die Dimension des Ereignisses sowie die dahinterstehende Dramatik führen jedoch nicht daran vorbei, diesen außergewöhnlichen Großbrand ergänzend zur umfassenden Berichterstattung in den verschiedensten Medien zumindest kurz zu beleuchten.

Tückische Fassade und offene Türen

Wie kann es passieren, dass ein Hochhaus im hochmodernen Mitteleuropa, dessen 10-Millionen-Euro-Sanierung erst letztes Jahr abgeschlossen worden ist, komplett in Flammen aufgehen und für Dutzende Menschen zur tödlichen Falle werden? Spricht man mit Fachleuten über das Thema, entsteht das Bild einer Walze, die sich vom Inneren des Gebäudes nach außen ausbreitete, dann wieder nach innen und wieder nach außen. So ging es enorm schnell nach oben. Die Fassade war dabei offenbar ein fataler Faktor.

Der Frankfurter Feuerwehrchef Reinhard Ries vermutet im Interview mit Spiegel.de aufgrund des Bildmaterials, dass die Fassade mit Platten aus Polyurethan oder einem ähnlichen Material verkleidet waren. Diese seien mit Aluminium überzogen und würden mit sehr großer Hitze brennen. Zudem seien sie offenbar nicht fachgerecht an die Fassaden montiert worden; Abstände und Schnittkanten seien deutlich zu erkennen. „Überall konnte Luft dazwischen strömen, die Fassade war wirklich problematisch“, sagt Ries. Das Feuer tropfe regelrecht vom Gebäude.

Nächtlicher Brandausbruch ohne Alarm

Das Feuer brach britischen Medien zufolge vermutlich im vierten Stock aus. Um 0.54 Uhr gingen die ersten Notrufe bei der Feuerwehr ein. Schon sechs Minuten später waren die Einsatzkräfte am Grenfell Tower. Zu diesem Zeitpunkt wüteten die Flammen vermutlich noch auf der vierten Etage und war nichts anderes als ein Zimmerbrand, wie er von der Feuerwehr in London wohl nahezu täglich einmal zu bekämpfen ist. Dann seien die Flammen aus dem Fenster einer Wohnung geschlagen und das Feuer gnadenlos die Fassade hochgelaufen. Die Flammen breiteten sich in den folgenden Stunden V-förmig horizontal über alle vier Fassaden des Gebäudes aus. Auf Grund der Sommerhitze standen viele Fenster und Türen offen. Der Brand drang sozusagen gleichzeitig an vielen Stellen von außen in die Wohnungen ein. Im Gebäudeinneren brannte das Feuer an vielen Stellen mehr als 24 Stunden lang. Eine zerstörte Gasleitung erschwerte die Löscharbeiten.

Der „Guardian“ hat eine Chronologie der Katastrophe veröffentlicht. Demnach berichtete ein Anwohner aus dem vierten Stock, er sei mit seiner Familie als einer der ersten aus dem Gebäude, dem Grenfell Tower, entkommen. Das sei nicht später als 01.10 Uhr gewesen und zu diesem Zeitpunkt habe das Feuer seinem Eindruck zufolge kontrollierbar gewirkt. Dann jedoch habe die Fassade Feuer gefangen. Gegen 1.15 Uhr wachte ein Bewohner im 17. Stock durch den Lärm der Feuerwehr auf, wie er dem „Guardian“ berichtete. Er habe seine Tante geweckt. Als sie es nach unten geschafft hätten, habe das Feuer gerade den 17. Stock erreicht. „Die ganze Seite des Gebäudes brannte, die Fassade ging in Flammen auf wie ein Streichholz“, schilderte der Mann.

Mehrere Bewohner des Hauses sagten dem „Guardian“ zudem auch, es hätte keinen Feueralarm gegeben. Lediglich die Rauchmelder der Privatwohnungen seien zu hören gewesen. Damit wurden sämtliche Anweisungen an die Bewohner, sie sollten bei Wohnungsbränden in den eigenen vier Wänden verharren, hinfällig. „Wenn wir uns daran gehalten hätten, wären wir jetzt tot“, berichtete der Mieter einer Wohnung im siebenten Stock der BBC, nachdem er mit seiner Freundin und dem gemeinsamen Baby über das Stiegenhaus ins Freie gerannt war.

Ein Unfall, „wie er in der Dritten Welt vorkommt“

Der britische Brandschutz-Experte Jon Hall nannte den Brand einen Unfall, wie er in der „Dritten Welt“ vorkomme. „Alle Bestandteile der Feuersicherheit und des Gebäudemanagements“ müssten versagt haben, vermutete er auf Twitter. Matt Wrack, der Chef der Feuerwehr-Gewerkschaft, sagte, nach dem Brand hätten die Bewohner des Gebäudes das Recht, kritische Fragen zu stellen – etwa, ob die Fassadenverkleidung die Feuersicherheit beeinträchtigt habe. Die für die Fassadenverkleidung zuständige Baufirma wurde scheinbar gebeten, den Sozialbau mit billigeren, aber weniger feuerfesten Platten zu verkleiden.

Das berichteten die britische Zeitung „The Times“ und der Rundfunksender. In einer E-Mail an die beauftragte Firma Artelia UK habe die Hausverwaltung im Juli 2014 einen „guten Preis“ für die Sanierung verlangt. Sie schlug demnach unter anderem vor, statt Zinkplatten leichter entflammbare Aluminiumplatten zu verwenden – und damit rund 293.000 Pfund einzusparen. Kensington und Chelsea ist der reichste Bezirk Londons.

Die Konsequenzen

Anderthalb Wochen nach der Grenfell-Brandkatastrophe wurden die Bewohner von fünf anderen Hochhäusern im Norden Londons wegen Brandgefahr evakuiert und in Notunterkünften und Hotels untergebracht! Die Feuerwehr hatte dort erhebliche Sicherheitsmängel festgestellt: unter anderem brennbare Fassaden, Fehler bei der Isolierung von Gasleitungen und das Fehlen von Brandschutztüren. In den fünf Hochhäuser der Großwohnsiedlung Chalcots Estate im Stadtviertel Swiss Cottage des London Borough of Camden waren rund 800 Haushalte bzw. 4.000 Bewohner des Burnham Tower, Bray Tower, Blashford Tower, Taplow Tower und Dorney Tower betroffen.

In den kommenden Wochen sollten (Stand Juli) die Fassadenverkleidung der Häuser entfernt werden. Der Grund seien „dringende Arbeiten zur Brandsicherheit“, teilten die Behörden mit. Die Entscheidung sei nach einer Inspektion der Feuerwehr getroffen worden. Die Feuerwehrleute sagten demnach, sie könnten die Sicherheit der Bewohner nicht garantieren. Eines der fünf Gebäude, der Blashford Tower, wurde nachträglich als doch sicher eingestuft, es war von 2006 bis 2009 von derselben Firma saniert worden sein wie der Grenfell Tower.

Das Feuerdrama entwickelte sich landesweit zu einem Skandal. Nachdem das Kabinett von Theresa May angekündigt hatte, landesweit insgesamt 600 Hochhäuser mit ähnlichen Fassadenkonstruktionen wie beim Grenfell Tower überprüfen zu lassen, wurden bei den ersten untersuchten 75 Häusern ohne Ausnahme Brandschutzmängel festgestellt. 60 Hochhäuser in 25 Gemeinden wurden nach Prüfungen der Fassadenverkleidung als brandgefährdet eingestuft. Einem Bericht der Oö. Nachrichten zufolge fielen bis zuletzt bei den Sicherheitstests für die Fassaden alle 149 überprüften Hochhäuser beim Brandschutz durch!

Schwierige Feststellung der Opferzahl

Laut der Londoner Polizei ist nach dem Brand von 80 Toten – die allersten Opferzahlen lagen bei sechs – bzw. noch immer Vermissten auszugehen. Die genaue Zahl der Opfer werde aber wahrscheinlich erst Ende des Jahres 2017 feststehen! „Was ich bis hierhin sagen kann: Wir glauben, dass 80 Menschen entweder tot sind – oder sie sind vermisst und wir müssen von ihrem Tod ausgehen“, sagte Fiona McCormack von Scotland Yard. Die variierend angegebene Zahl an Verletzten liegt bei ebenfalls rund 80.

Ein Web-Artikel der BBC News schilderte zusätzliche Probleme dabei, eine genaue Vermissten- beziehungsweise Opferzahl zu nennen: Zwar wurde das gesamte Gebäude durchsucht, aber eine Zahl an Opfern ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Dazu sind einige Datenquellen wie die Mieterliste, die Informationen des Casualty Bureau und das Wählerregister zwar relativ robust, jedoch erfassen diese je nach dem keine Kinder, Ausländer, Besucher oder Fälle von illegaler Untervermietung. Im Vereinigten Königreich existiert keine vergleichbare Pflicht, den Wohnsitzwechsel zu melden.

Ebenso wurden die eingegangenen Feuernotrufe ausgewertet und die überlebenden Bewohner danach gefragt, welche anderen Bewohner sie kannten. Letztlich fragte die Londoner Polizei auch Kindertagesstätten, Sozialarbeiter, Botschaften und sogar Fastfood-Lieferanten nach Informationen darüber, wer zur fraglichen Zeit im Grenfell Tower wohnte.

Feuerwehrmagazin Brennpunkt

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